Der Enkel von Tenzing Norgay schrieb eine Geschichte der Everest-Bergsteigerei aus Sicht der Sherpa.
Der höchste Punkt der Erde war für das Volk der Sherpa jahrhundertelang ein großer Berg unter vielen anderen – bis die Europäer Ende des 19. Jahrhunderts den Everest „entdeckten“.
Und dann zeigte sich die sprichwörtliche Anpassungsfähigkeit des ursprünglich aus Tibet eingewanderten Volkes nicht nur körperlich in extremen Höhen, sondern auch im Ergreifen von Möglichkeiten. Die Sherpa brachten und bringen viele der besten Bergsteiger der Welt hervor und leisteten einen unschätzbaren Beitrag (nicht nur als Träger!) zur Himalaya-Alpinistik. Dieser wird bis heute von der westlichen Welt nicht anerkannt, schreibt Tashi Tenzing, der Enkel des Everest-Erstbesteigers Tenzing Norgay. Er hat eine Geschichte der Sherpa mit dem Titel „Im Schatten des Everest“ geschrieben. Tatsächlich halten Sherpa die meisten wichtigen Everest-Rekorde (der Erstbesteiger und der erste Mensch, der den Everest zweimal bezwang, waren Sherpa – genauso wie derjenige, der am öftesten und derjenige, der am schnellsten auf den Gipfel gelangte; aus einer Sherpafamilie gingen erstmals hintereinander drei Generationen von Everestbezwingern hervor).
Der Everestboom nahm im indischen Darjeeling, der Sommerresidenz hitzegeplagter Kolonialbeamter, seinen Ausgang. Dorthin zogen Sherpa und schlugen sich oft jahrelang mit Grasschneiden oder als Kuhirten durch, ehe sie bei einer Expedition beschäftigt wurden. „Tiger“ nannten die weißen „Sahibs“ jene Sherpa, die Lasten bis in große Höhen trugen. Und später wurde die „Tigermedaille“ eine begehrte bergsteigerische Auszeichnung für Sherpa.
Everest-Erstbesteiger Tenzing Norgay, der die Sherpa in aller Welt berühmt machte, kletterte selbst am liebsten mit Schweizern, die – ohne koloniale Vergangenheit – einen kameradschaftlicheren Umgang mit dem Sherpa pflegten und die Einheimischen als Gleichgestellte betrachteten.
Autor und Bergsteiger der dritten Generation Tashi Tenzing attestiert den Sherpa, die sich stets in der Himalaya-Region frei bewegt hatten, wenig Nationalitätsbewusstsein. Und doch wurde die Erstbesteigung durch einen Sherpa nationalistisch ausgeschlachtet. Tenzing wurde im damals sich gerade erst öffnenden Nepal und im unabhängig gewordenen Indien zum Nationalhelden.
Judy & Tashi Tenzing. Im Schatten des Everest.
Die Geschichte der Sherpa, Frederking und Thaler,
München 2003. 302 Seiten, Euro 24,70.